Ernährungs-Blog

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Gesunde Ernährung im Countdown - Von Politik, Werten und Einfachmachern

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Kaum eine Woche ist es noch bis zur Wahl. Minus einen Tag, dann findet unser jährliches Heidelberger Ernährungsforum statt. Das Flaggschiff unserer Arbeit, wenn man so will, für das wir uns bereits mit wachsender Begeisterung „warm laufen“. In einem der ersten Meetings mit unseren Partnern, fiel der Satz: „Das wird ja richtig politisch in diesem Jahr“. Dieser überraschte Ausruf galt dem Vorprogramm, das wir soeben für unsere Gäste komponiert hatten. Mir gab diese Reaktion den Impuls, einen Gedanken zu Papier zu bringen, der mich bereits seit einigen Wochen beschäftigte, in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den Konzepten einer zukunftsfähigen, gesunden Ernährung, oder eben: im „Neuen Normal“. Auch im Wahlkampf der Bundestagswahl spielt gesunde Ernährung eine Rolle - endlich. Diesem „gesund“ wird heute ein noch komplexeres, globales Verständnis zu Grunde gelegt, als früher. Diese Gesundheit ist als „planetar“ definiert und bezieht sich nunmehr auf die, von Menschen, Tier und ganzen Ökosystemen. Dieser Erweiterung liegt zugrunde, was spätestens die jüngsten Krisen anmahnen: die Gesundheit des Planeten ist die zwingende Voraussetzung für die menschliche Gesundheit. Womit etablierte, isolierte bzw. anthropozentrische Sicht- und Wirtschaftsweisen endgültig nicht mehr vertretbar sind.

Folglich beschäftigen sich auch die originär mit gesunder Ernährung befassten Wissenschaften nicht mehr nur mit den Auswirkungen von Ernährung auf Individuen, sondern auch mit den Auswirkungen der Essgewohnheiten auf Lebensraum und Gesellschaft. Damit sind auch die Umstände oder Verhältnisse, innerhalb derer Menschen sich ernähren, gemeint. Man spricht auch von Ernährungsumgebungen. Dem Totalphänomen Ernährung wird diese Horizonterweiterung schon wesentlich gerechter, als es die isolierte und oft stofflich reduzierte Sicht es vermochte. Stichwort: Food Well-Being. Von da an richteten sich die Appelle der Wissenschaft im Zusammenhang mit gesunder Ernährung weniger an die Verbrauchenden selbst, sondern überwiegend an die zuständigen Stellen der Ernährungspolitik.

Politisch zu sein bzw. politische Diskussionen zu führen, sind nicht Sache der Dr. Rainer Wild-Stiftung. Sie beobachtet, was wissenschaftlich rund um das Thema gesunde Ernährung vor sich geht. Zentrale Bedeutung haben fachlich ausgewogene Dialoge, die unter Beteiligung möglichst vieler wissenschaftlicher Disziplinen geführt werden. Und eben nicht, wie so oft der Fall, isoliert im eigenen, engeren Fachkreis. Die Dr. Rainer Wild-Stiftung fördert die Verbindung von Wissen der Disziplinen, spiegelt die vielen Perspektiven und versteht gesunde Ernährung von jeher im umfassenden Sinne. Gerade dieser 360-Grad-Blick hilft auch zu verstehen, dass sich heute auch die gesunde Ernährung, einschließlich vermeintlich „(un-)gesunder“ Lebensmittel, offenkundig so politisiert hat. Und wie es dazu kam.

Bereits vor einigen Jahren publizierte der Soziologe Thomas Schröder eine Erörterung, die mir die „Politisierung“ der gesunden Ernährung, so will ich es hier nennen, erklärte. Damals ging es darum, die wachsende Attraktivität von Ernährungs- bzw. Food-Trends wissenschaftlich abzuleiten. Vornehmlich ging es um die mit ethischen oder anderen ideellen Werten „aufgeladenen“ Konzepten. Nach meiner (fachfremden) Lesart sei das auch darauf zurückzuführen, dass der Zulauf werteorientierter Trends, wie generell der Ausdruck bestimmter, teils mit politischen Haltungen verknüpfter Motive mittels Essen und Trinken, auch dem Lebensgefühl der Spätmoderne entsprängen. Die Literatur dazu verstehe Konsumieren in bestimmten Fällen als politische Handlungen, lese ich. Also doch. Auch nach Zukunftsforscherin Hanni Rützler liegen die Triebkräfte solcher Trends tiefer, als im Handeln Einzelner. Im Falle mit gesundheits- oder nachhaltigkeitsbezogenen Werten orientierten Ernährungs- oder Food-Trends wären das nach Rützler und Horx, u.a. sogenannte Megatrends, erinnere ich mich. Hier zu nennen etwa Individualisierung, Digitalisierung, Wissenskultur, Neo-Ökologie und Globalisierung. Sie wirken, mit dem Bild eines Flusses erklärt, in der Tiefe. In dem lösen die unsichtbaren, stärkeren Strömungen unter Wasser, die sichtbaren Wellen, gleich Food-Trends, an der Oberfläche aus. Megatrends gibt es viele, sie wirken gleichzeitig, wechselseitig antreibend auf Ernährungspraktiken und Ernährungs-umgebungen von Individuen ein. Das geschieht mehr oder weniger unbewusst, aber mitunter so stark, dass sie die Masse mitreißen. Ernährungspraktiken, so beschreibt die Ernährungssoziologin Jana Rückert-John, entzögen sich der Reflexion. Als Routinen sind sie mehr als beobachtbare Entscheidungen bzw. Handlungen. Aber wie diese, bieten Praktiken Raum für die Selbstbeschreibung und Selbstoptimierung und orientieren sich an kollektiven Werthaltungen, wodurch sie Handlungssicherheit stiften. In hoher Frequenz (tagtäglich) praktiziert, verselbstständigen sich Praktiken jedoch in gewisser Weise, wodurch auch das Ausleben bestimmter Werte durch Ernährung implizit wird. In meinem Kopf: ein lautes Klicken. Klar, dass es mehr als das für die wissenschaftliche Evidenz messbaren Verhaltens geben muss, aber viel zu selten wissenschaftlich erörtert zu lesen.

Im auf die heutige Ernährungsrealität übertragenen Sinne bedeutet das, dass die Wurzeln des ggf. politisierten Teils der Ernährung heute, einerseits beim Individuum und dessen Biografie selbst liegen, andererseits genauso im unmittelbaren Umfeld und der weiteren Ernährungsumgebung. Alle Individuen sind auch Teil dieser Kontexte, sie prägen und sind gleichsam geprägt, sowohl durch den eigenen Lebenslauf wie auch durch tieferliegende Triebkräfte. So gesehen, handeln Menschen einerseits individuell, aber gleichzeitig immer auch aus ihrer Biografie, ihren Routinen und dem Kollektiv heraus, wie auch aus einem Zeitgeist. Alles das ist kaum per quantitative Evidenz beweisbar. Aber so schlüssig wissenschaftlich beschrieben, klingt alles zusammen für mich sehr plausibel. Zugegeben, klingen die Ausführungen für mich als Naturwissen-schaftlerin sehr kompliziert und anstrengend. Aber das gilt auch für die vielen verschiedenen gesundheitsbezogenen, ökologischen, ethischen, oder, oder, oder…Motive, nach denen Verbrauchende sich heute beim Essen orientieren wollen. Es aber nicht immer schaffen. Dass Verbrauchende ihre Ansprüche an Essen, allem Wissen und immer mehr Möglichkeiten zum Trotz, sehr oft nicht umsetzen, das führen uns reihenweise Studien vor Augen und auch die Persistenz ernährungsassoziierter Gesundheitsrisiken. Kein Wunder, Praktiken bzw. Routinen entziehen sich ja auch der bewussten Kontrolle, so lese ich bei Jana Rückert-John.

Aus anderer Perspektive blicken viele führende Wissenschaftler anderer Fachgebiete auf diese Gemengelage. Darin geht es um Bewusstheit bzw. Absichten und auch an der Konzentration auf pathogenetische Zusammenhänge und ein Bemühen, das Risikofaktoren gemäß Verursacherprinzip ausschaltet. Da nun immerhin die Umgebung von Ernährung miterfasst wird, richten sich Vorgaben und Forderungen inzwischen v.a. an Wirtschaft und Politik. Sie formulieren, wie eine zukunftsfähige „gesunden Ernährung“ zu gestalten und zu erreichen ist. Qua des Auftrags jener Disziplinen sind diese allesamt mithilfe anerkannter Methoden generiert und wissenschaftlich sauber mit den bis dato vorliegenden Fakten belegt. Die Basis bildet damit eine Evidenz, die das quantitativ Messbare, erfolgtes Handeln bzw. Entscheidungen, abbildet, oder daraus errechnete Modelle. Womit sie  immer unweigerlich an die Vergangenheit gebunden sind, schwant mir. Noch etwas: Um eine wissenschaftlich gewichtige Evidenz zu generieren, kommen Methoden zur Anwendung, die sich einer starken Pauschalisierung und Vereinfachung auf Parameter bzw. Zusammenhänge bedienen, zugunsten der Aussagekraft. In Teilen spiegelt sich diese auch in der Ansprache an die Öffentlichkeit wieder. Die zweite Argumentation dahinter lautet, dass, um Menschen zu „richtigem“ Verhalten zu bewegen, Fakten nur genügend erklärt und vereinfacht werden müssten. Die Berechtigung der Positionen steht für mich außer Frage. Ob diese allerdings fruchten kann, darum wird es bei allem Vorwärts-Denken auch gehen müssen. Weil Mensch und Realität nicht umfassend den Gesetzmäßigkeiten entsprechen, muss ein großes Stück davon weit außen vor bleiben?

Schwierig erscheint mir dabei: Das Facettenreichtum globalisierter und sich zunehmend diversifizierender Gesellschafts-, Bildungs- und Wirtschaftssysteme fallen durch die groben Raster dieser Methoden. Sind Marginalitäten oder Sachverhalte automatisch nicht entscheidend bzw. weniger wirksam, weil sie marginal ausfallen bzw. nicht quantitativ messbar sind? Und nicht zuletzt schwingt in allen diesen hervorragenden Papieren ein normativer Charakter der Empfehlungen oder Forderungen mit. Wenn auch unaus-gesprochen. Nach den oben ausgeführten Betrachtungen sind weder Vernunft oder Fakten Antrieb für Handeln, sondern beteiligt an Motivationen. Zudem sind viele der schemen-haften, eigens konstruierten Haltungen, die Verbrauchende als Gründe für ihren politisierten Kauf- bzw. Ernährungsentscheidungen reflektieren, alles andere als logisch und/oder basieren sie auf faktisch nicht-haltbaren, aber dafür umso komplexeren Heuristiken. Auch das sei charakteristisch für das Zeitalter der Spätmoderne, laut dem Soziologen Schröder.

Richtig: Die (gesunde) Ernährung ist komplexer denn je, der Alltag erst recht und alles das überfordert. Doch die Motivlagen und eigenen Wahrheiten von Verbrauchenden sind mitnichten einfacher. Aufschlussreiches beschreiben uns beispielsweise die Sozial- und Kulturwissenschaften oder die Zukunfts- und Marktforschung. Mir führten sie zum Beispiel die zugrundeliegenden Mechanismen einer Entwicklung vor Augen, die aus einstigen Nischenthemen „vegan“ einen messbaren (!) Massentrend machte. Daraus entwickelte sich eine Bewegung von derartiger Tragfähigkeit, die ganze Marktsegmente ins Gegenteil umkehrte. Stichwort: Fleischersatz. Heute, wo das vollzogen ist, belegen erste Evidenzen: Veganer*innen sind in der Anzahl nach wie vor wenig, haben sie aber zumindest in den jüngeren Altersgruppen sehr wahrscheinlich einen stärkeren Einfluss auf die Menschen in ihrer Umgebung, als anders beim Essen Orientierte, die die Masse ausmachen. Weiß man jetzt, ein paar Jahre später.

Besonders im Hinblick auf die gesunde Ernährung der Zukunft fällt mir auf, dass wir die Lösungen für die Zukunft (das neue Normal) mit Methoden und Perspektiven zu entwerfen versuchen, die an die Vergangenheit (das alte Normal) gebunden sind. Hier werden Verbrauchende, wie auch deren Ernährungsumwelt in isolierten Ursachen-Wirkprinzipien verstanden. Und: Esskultur auf Schutz- oder Risikofaktoren reduziert. Empfehlungen beruhen so auf isolierten Betrachtungen, faktenbasierten Modellen bzw. Daten, und die aus der Realität eines Gestern stammen, und allzu oft aus völlig anderen (sozio-kulturellen) Kontexten. Aktuell geht es um nichts Geringeres, als das große Ganze: Die Transformation des Ernährungssystems. All die fantastischen Berichte, Gutachten, Positionspapiere usw. hoch-respektabler Wissenschaftler*innen, haben den umfassenden, systemischen Anspruch. Wie beeindruckend fundiert und schnell hier gehandelt wurde, ist eine großartige Leistung. Dennoch ist die Arbeit von einer tendenziellen, fachlichen Einseitigkeit gezeichnet. Mir fehlen in diesen Entwürfen in gleicher Präsenz die Methoden, das Wissen, die Gegenwart oder Zukunftsszenarien beobachtend und wertungsfrei beschreiben. Und Lösungen, die die Partizipation von Bürger*innen auch in die Wissenschaft mitdenken. Oder in zwei Worten: der tatsächliche Realitätsbezug und die Fairness.

Angesichts des Gewichts der Aufgabe besorgt mich das und es ermuntert mich zum Weiterdenken. Es lassen sich in puncto Gesundheit doch wesentlich mehr Kriterien „fairer Ernährungsbedingungen“ finden, als Verpackungsinformationen oder Werbestrategien einzelner Akteure ausgewählter Marktsegmente. Mit welcher Logik hier vorgegangen wird, leuchtet mir ein und dass diese richtig ist, stelle ich nicht in Frage. Angesichts der Erfahrungen mit den normativ gefärbten Schemen einer gesunden Ernährung in den letzten dreißig Jahren, beschleicht mich dennoch der Gedanke, dass sich im „Großen“, dem Globalen das wiederholt, was uns seit Jahrzehnten im „Kleinen“ wiederfahren. Die Suche nach der (einzig) „richtigen“ gesunden Ernährung ist keine Erfolgsstory. Unverdient genießt die Wissenschaft kaum noch Bedeutung für die Ansichten der Allgemeinheit in Sachen gesunde Ernährung. Könnte das an der fehlenden Einigkeit unter den Wissenschaften liegen?

Die wichtigsten Botschaften der Arbeitsgruppe aus berufenen Expert*innen und Profis, die im Nationalen Dialog im Rahmen des UN Food System Summits 2021 im Sommer einen Konsens für eine faire und für den ganzen Planeten gesunde Ernährung von Morgen entwarfen, lauteten: Handelt! Jetzt! Zusammen! Uns bleiben rund fünf Jahre, um die Umweltbedingungen der nächsten 100 Jahre zu gestalten. Ob lebenswert und in welchem Maße (gesund), lässt sich jetzt noch beeinflussen, Betonung auf „Jetzt“ und „Noch“. Das geht nur, wenn Alle, wirklich Alle, auf ein gemeinsames Ziel hinarbeiten. Das setzt voraus, dass Expert*innen all der vielen, vielen Fachdisziplinen sich einigen und einbringen. Und auch, dass Zivilist*innen, nicht nur als Verbrauchende adressiert werden und nicht außen vorbleiben, sondern als Aktive partizipieren. Denn, dass die sich nichts ungefragt diktieren lassen, weder nationale Regeln für „die“ richtige, gesunde Ernährung wie früher, noch für die plantare, sondern sich die Welt selbst erklären, liegt wahrscheinlich nicht an der Komplexität oder mangelhaften Beweisen, sagen die Gesellschaftswissenschaften. Ich halte fest an der interdisziplinären Vision. Gehen wir es „open minded“ an. Denn weder bleiben uns die Ressourcen für ein Gegen- oder Nebeneinanderher, noch gibt es Grund zu zaudern. Let’s create something wonderful!“, sagt „The Plan“. (Literaturquellen bitte anfordern)

Dr. Silke Lichtenstein

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